Mittsommernacht, ein Traum
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Das erste Johanniskraut kam vor Jahren angeflogen. Wahrscheinlich mit einem Vogel, oder mit dem Wind. Vielleicht brachten es aber auch die Waldameisen als Proviant in Form eines Johanniskrautsamens mit, als sie sich hier niederließen. Dann vergaßen sie ihn offenbar. Er keimte und trieb eine schöne große Pflanze. Die stand selbstverständlich genau dort, wo man sie am wenigsten brauchen konnte, nämlich mitten im Weg. Jö schau, sagt man sich dann, das vielgerühmte Kraut des Lichtes und der Freude hat sich ausgerechnet meinen Garten als Heimstatt ausgesucht. Andere streifen auf der Suche nach ihm durch Felder und Flure oder kaufen seine getrockneten Reste und extrahierten Auszüge in der Apotheke, und hier wächst es frei Haus. Es darf stehen bleiben. Man kann ja auch kleine Umwege tun. Ein gerader Weg ist sowieso nur eine Idee, und nicht immer soll man stur auf allen selbstauferlegten Pfaden trampeln.
Das Johanniskraut wurde ziemlich groß. Jedenfalls größer als erwartet und auch viel breiter. Der Weg war für diese Saison Geschichte. Dafür blühte es pünktlich um den Johannistag sonnengelb in zahllosen Sternchen auf. Aus diesen gelben Blüten ließ sich das berühmte rubinrote Öl gewinnen, das, äußerlich und innerlich angewandt, allerlei Gebrechen fortzaubern soll. Als Tee steht das Kraut im Ruf, Verstimmungen zu vertreiben, doch da solche nicht vorlagen, wurden Selbstversuche unterlassen. Also erfreute es hauptsächlich Auge, Bienen und Schmetterlinge. Es blühte bis in den späten August hinein, und auf dass auch die Ameisen, die Vögel und der Wind Beute machen könnten, ließ ich die Samen reifen, das Kraut stehen. Fragen Sie mich heute! Johanniskraut, wohin das Auge blickt.
Noch immer bin ich ihm hold, doch da es sich als mehrjährig und ausdauernd erwies, ging ich doch irgendwann dazu über, die sich im Frühling ankündigenden neuen Johanniskräuter stellenweise auszurupfen. Morgen ist übrigens Johannistag, am Donnerstag war Sommersonnenwende. Für Leute, denen die Natur nicht nur Staffage ist, ist das eine ganz besondere, ja, eine magische Zeit. Alles wendet sich, die Sonne kehrt um. Um den Johannistag erntet man traditionell die grünen Johannisnüsse, um sie in Zuckersirup einzulegen oder um den überaus bekömmlichen Nussschnaps anzusetzen. Auch die Johannisbeeren werden jetzt eingesammelt und zu Gelees, Marmeladen und Säften gekocht. Dafür hört man auf, Rhabarberblätter zu schneiden und Spargel zu stechen.
Alles hat seine Zeit, nachzulesen schon bei Heinrich Heines „Waldeinsamkeit“. Denn nur in der Johannisnacht, so lehren ihn die Alräunchen, pflückt man „das Kräutlein, das unsichtbar macht“. Um die Johannisnacht herum tauchen in warmen Nächten auch die Johanniskäfer auf. Die Glühwürmchen tanzen mit kaltem grünem Licht durch die Gärten, was nicht nur Kinder, sondern auch die Vernünftigen unter den Erwachsenen entzückt. Am begeistertsten sind jedoch wahrscheinlich die Frauen unter den Leuchtkäfern, denn die fliegen nicht. Die können das gar nicht. Die sitzen vielmehr im Gras, und wenn oben ein Leuchtkäfermann vorbeifliegt, die Laterne schön in Balzbetrieb, blinken sie ihm von unten zu, damit er sich gleich fallen lässt und sich zu ihnen gesellt.
Gerade einmal zwei Wochen dauert das Spektakel im Juni, dann ist es damit wieder für ein Jahr vorbei. Die Mittsommernächte wollen also ausgenutzt werden. Sie sind die besonderen. Als Kinder kamen wir uns unglaublich wagemutig und kühn vor, wenn wir in diesen Nächten unbemerkt aus Kinderzimmerfenstern kletterten und uns an geheimen Treffpunkten am Waldesrand sammelten wie ein kleiner Hofstaat von Oberon und Titania. Barfuß durch die Wiese, die Glühwürmchen lautlos überall, zu hören nur die Grillen und unser Atem. Die Eltern weit weg, in einem anderen Universum, aus dem wir uns unerlaubt entfernt hatten, das irgendwo im Schlaf lag und mit uns für einen flüchtigen, kostbaren Moment nichts zu hatte. Denn jetzt waren wir Elfenköniginnen und Elfenkönige. Als das eigene Kind irgendwann berichtete, dass es, vor Jahren schon, in der Nacht ausgebüchst und mit den Kumpanen durch die Johannisnacht gezogen war, während ich alter Sack im Bette schlief, wusste ich, dass die Welt noch in Ordnung ist.
Erschienen in "Die Presse"
Das Johanniskraut in den Garten zu holen ist einfach: Ernten Sie im Spätsommer ein paar wilde Samen und streuen Sie sie an eher trockenen, nicht gedüngten Stellen aus. Es sucht sich seinen Platz. Wo es keimt, belassen Sie es, denn es will nicht verpflanzt werden. Und wenn Sie Glühwürmchen beobachten wollen, von denen es heuer beglückend viele gibt, spritzen Sie niemals, ich wiederhole, niemals irgendwelche Pestizide.