Hauszwetschke in Brand
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Es ist die Zeit der ersten Schulwochen. Damit unweigerlich und auf ewig verbunden sind die folgenden Erinnerungen: Altweibersommer. Goldenes Licht. Winzige Spinnen segeln an meterlangen glänzenden Fäden quer über Wiese und Schulweg. Noch besser zu beobachten am späten Nachmittag, wenn die Sonne tiefer steht und wenn man von den letzten Parasol-Streifzügen des Jahres heimkommt. In der Schule ist jetzt noch nicht viel los. Gelegenheit, ein bisschen durch die Wälder zu streifen, bevor der Winter kommt.
Derjenige, der uns dazu anstiftet, ist immer der Großvater. Der kennt die besten Pilzplätze und die Stellen, an denen man nach schwarzen Trüffeln graben kann. Er geht auch allein, doch mit uns ist es lustiger. Er will aber noch etwas anderes von uns in den ersten Schulwochen: Zwetschken. Die sind jetzt reif. Liegen in der Wiese. Müssen aufgeklaubt werden. Wenn wir von der Schule heimkommen, schmeißen wir die Schultaschen an die Hauswand, greifen uns die Kübel und gehen Zwetschkenklauben.
Wir tun es weder gern noch ungern. Wir haben den Auftrag. Dauert sowieso nicht lang. Jeden Tag eine Viertelstunde. In ein, zwei Wochen ist es mit der Ernte vorbei. Das einzig Lästige sind die Wespen. Die sitzen überall. Wer zu schnell klaubt, wird in die Finger gestochen. Wir klauben alles, auch den Zwetschkengatsch. Der Großvater ist nicht heikel. Er ist ein Handwerker und ein alter Bauer. Wir denken überhaupt nicht darüber nach, wir klauben einfach.
Die Zwetschken kommen in große Säcke aus sehr dickem durchsichtigem Plastik und in die Hütte und werden dort in den nächsten Wochen gären. Gelegentlich tritt der Großvater mit der Haferlschuhspitze an die Maischesäcke und erkennt an der Beschaffenheit der aufperlenden Gase, wie weit die Angelegenheit gediehen ist. Wir finden, es duftet nach Herbst und Abenteuer, nach Werkstatt und nach daheim. Andere könnten meinen, es stinke. Schnapsbrennmeister würden sagen, es rieche nach Pfusch. Das Finanzamt witterte in jedem Fall Schwarzbrennerei. Doch das Finanzamt ist weit weg und heute ist die Angelegenheit lang verjährt, also pfeif drauf!
Irgendwann im Dezember knattert dann an einem sehr frühen Morgen und meistens bei dichtem Nebel die grün-métallisée lackierte Puch MS-50 vom verbündeten Franz Sch. über die Auffahrt - mit Anhänger. Das Traumgefährt meiner Kindheit. Wir haben vom Großvater den Auftrag, Stillschweigen über alles zu wahren, was jetzt passieren wird. Der ist sinnlos. Spätestens um sieben in der Früh hängt über dem ganzen Dorf eine Sliwowitz-Duftglocke, die bis Mitte Vormittag einen kleinen Fuhrpark von MS-50igs in den Hof gelockt hat.
Deren allesamt betagte und bestens gelaunte Besitzer umringen in der von einem Kanonenofen wohlig warm gehaltenen, dunstigen Werkstatt das, was bis in die Morgenstunden des nächsten Tages Zentrum des Geschehens sein wird: Eine selbst gebaute Schnapsbrennanlage, ein geschweißtes Ungetüm, in deren voluminösem Kessel die von uns geklaubten, vergorenen Zwetschken vor sich hin brodeln. Eine Motorradkette sorgt dafür, dass nichts anbrennt. Vorlauf. Mittellauf. Nachlauf. Nie dicker als eine Stricknadel darf das alles rinnen. Verkostet wird natürlich auch.
An große Trunkenheit erinnere ich mich nicht. Gelacht und fachgesimpelt wurde aber viel. Vor allem über die Zwetschke. Niemals hätte der Großvater zum Beispiel Pflaumen gebrannt. Den Unterschied zwischen Zwetschken und Pflaumen bläute er uns ein, obwohl der, botanisch betrachtet, minimal ist. Beide heißen Prunus domestica, die Zwetschke ist dabei eine Unterart der Pflaume, eigentlich eine Sorte, wobei das bei den Zwetschken irgendwie noch komplizierter ist, weil sich sogar Hauszwetschken regional stark voneinander unterscheiden.
Sie sind kleiner, härter, aromatischer und säuerlicher als die saftigeren Pflaumen, und besser für diverse Einkochereien geeignet, wie den berühmt-berüchtigten, aufwendig zu kochenden Powidl. Der wird mit Pflaumen nie wirklich gut. Der Großvater schwor für seine Schwarzbrennerei, wie gesagt, auf die gute alte Zwetschke, und je süßer und schrumpeliger sie war, desto lieber war sie ihm. Jedes Jahr in der Zeit des Schulanfangs denke ich besonders stark an ihn. Und heuer habe ich erstmals für mich Zwetschken geklaubt. Über den Rest bewahre ich vorerst Stillschweigen.
Erschienen in der Presse