Die Metamorphose der Tomate
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Die Genealogie der in meinem Besitz befindlichen Essigmutter lässt sich nachweislich bis zu meiner Großmutter zurückverfolgen. Fast sicher hatte sie die gallertige Substanz, die man zur Essiggewinnung braucht, ihrerseits irgendwann von der Uroma übernommen. Was davor war, wird etwas spekulativ. Doch fest steht, dass die Frauen der Familie fast ein Jahrhundert lang wie nebenbei gut auf diese braven Essigbakterien aufgepasst haben. Die kann man nämlich mit den falschen Temperaturen und schlechter Nahrung relativ leicht ums Eck bringen. Das ist zum Glück auch heuer wieder nicht passiert, ganz im Gegenteil.
Dieses Jahr brachte die Krönung aller innerfamiliären Essigproduktionen, und ausnahmsweise platze ich fast vor Stolz. Aus zehn Samenkörnern, eben dieser Essigmutter und, bei aller Unbescheidenheit, nicht zuletzt meiner Hände tätig Werk entstanden drei Liter feinen Tomatenessigs. Eigentlich keine Hexerei, trotzdem eine Gratwanderung mit Absturzmöglichkeiten, vor allem aber ein Prozess, der sich über eine gesamte Saison zog.
Erst mussten im Februar die Samen der besonders süßen sizilianischen Costoluto-Tomaten aufgetrieben werden. Nicht ganz einfach, aber dank Internet möglich. Die daraus gezogenen Pflanzen gediehen gut, die Früchte dieser übrigens auch für jeden sonstigen Paradeisergenuss sehr empfehlenswerten Sorte reifen aber relativ spät. Deshalb war es erst Ende des Sommers möglich, eine entsprechende Menge zu ernten, mit bloßen Händen zu zerquetschen und in einen Gärbehälter Marke Eigenbau zu füllen.
Eine Prise Gärhefe für den Weinbau sowie ein Gärstutzen komplettierten das Werk. Denn die alkoholische Gärung hat unter Ausschluss von Luft zu erfolgen, und die falschen Hefen will man nicht dabei haben, das kann den Geschmack ziemlich trüben. Es setzte binnen weniger Stunden ein infernalisches Brodeln und Gären ein, dass es ein Vergnügen war. Nach sechs, sieben Wochen waren die Zucker in Alkohol umgewandelt, der Tomatenmost fertig. Er konnte abgezogen, also abgeseiht, und mit der Essigmutter, also den Essigbakterien, versetzt werden.
Jetzt hinein in das Essigfass damit und weg mit dem Gärstutzen, denn die Essiggärung erfolgt aerob, also mit Sauerstoff. Andernfalls ersticken die braven Mikroorganismen, von denen man allerdings die falschen auch wieder nicht in der Suppe schwimmen haben will, wessentwegen die Temperatur immer passen muss und keinesfalls schwanken darf. Denn die Essigbakterien sind, wie gesagt, nicht ganz unheikle Kreaturen. Wenn ihnen zu kalt wird, pfeifen sie auf alles. Dabei sollen sie doch unverdrossen den Alkohol mittels Oxidation zu Essigsäure umwandeln. Weitere sieben Wochen müssen verstreichen, bevor das erledigt ist und dieses Gesamtkunstwerk der Natur verkostet werden kann.
Dann zieht man eines bangen Morgens die luftige Abdeckung vom Fässchen, taucht einen Strohhalm tief hinein, deckt die Öffnung mit dem Finger ab und birgt so die zu verkostende Menge. Die kann so schmecken wie Nagellackentferner riecht. Dann ist alles schief gegangen. Oder sie mundet andeutungsweise so wie das Vorbild, und dann ist man wirklich beglückt. Denn in diesem Fall ist ein langes, lustiges und aufregendes Projekt tatsächlich gut gegangen.
Das Vorbild kann natürlich nur der unvergleichliche Tomatenessig Erwin Gegenbauers sein, der eines feierlichen Nachmittags auf dem Wiener Naschmarkt verkostet werden durfte. Der ist unerreichbar für unsereiner, weil der Wiener Essigbrauer nicht nur eine, sondern viele verschiedene Essigmütter kultiviert und genau weiß, welchen Essigbakterienstamm er für seine unterschiedlichen Essige am besten einsetzt. Dennoch, er hätte sein Wissen nicht so bereitwillig teilen müssen. Er hätte sich nicht stundenlang über Temperaturen, Hefestämme, Alkoholgehalt und andere Raffinessen unterhalten müssen.
Die eigene Essigmutter hatte bis dato immer nur zwei Zutaten zu futtern bekommen: Wein oder Apfelmost, letzteren ebenfalls aus eigener Produktion. Beides ergibt auch ziemlich gute Essige. Doch auch einmal den eigenen Gemüsegarten anzuzapfen und das, was darin wächst, in mehreren Prozessen umzuwandeln und schließlich über Salate, Käse und in Saucen träufeln zu können, befriedigt sehr. Für mindestens ein solches leicht irres Projekt pro Jahr soll Zeit sein. Wo bleibt sonst der Spaß?
Erschienen in der Presse
Das Wenige, was Sie für das Essigbrauen an Zutaten brauchen, kann man in den meisten Lagerhäusern bekommen. Also Gärstutzen, Gefäße, Gärhefen, Essigmutter. Der Rest liegt an Ihnen und in Ihrem Garten herum. Bis dahin ist ein Besuch der Gegenbauerschen Essigwelt am Wiener Naschmarkt zu empfehlen, oder ein Besuch der Website www.gegenbauer.at . Das Essiguniversum hat mehr zu bieten, als binnen 48 Stunden gebrauten Industrieessig. Wie das Essigbrauen genau geht, und logischerweise vieles andere mehr an absurden und guten Rezepturen, kann man in „Warum schmecken Maulbeeren am besten nackt?“ nachlesen.