29.11.2023

Gute Nacht, ihr Süßen

Wie man Südseepalmen zu Bett bringt, warum auch Bäume schlafen gehen und um wie vieles alles wieder einmal komplizierter ist, als man sich gewöhnlich träumen lässt.

Es wird wieder heller. Die Sonne knabbert an den Tagesrändern. Die Strecke zwischen Sonnenaufgang und Untergang nennt man Lichter Tag oder Taglänge, und wer den Seiten-Cosinus-Satz der sphärischen Trigonometrie beherrscht, kann den täglichen Lichtzuwachs auch berechnen. Was auch immer dabei herauskommt – den meisten Zimmerpflanzen ist es trotzdem noch zu finster. Sie strecken sich mit länger werdenden Trieben zum Fenster und neigen die Blätter in optimale Winkel, um möglichst alles an Licht einzufangen, das sie kriegen können.

Wer sich jemals gefragt hat, wie sie diese in faszinierenden Zeitrafferaufnahmen sichtbar werdenden Bewegungen bewerkstelligen: Das Licht löst biochemische Prozesse aus, die dazu führen, dass sich die Pflanzenzellen auf der Schattenseite in die Länge strecken, während das Wachstum auf der Lichtseite gehemmt wird. Manche Pflanzen verfügen auch über Motorzellen im Stiel oder im Blattansatz, die sie durch Erhöhung des Innendrucks verlängern und damit relativ schnelle Bewegung erzeugen können.

Auch Bäume ruhen nachts

Aber alles ist immer noch komplizierter als man denkt, und so gibt auch noch die circadiane Rhythmik zu beachten, nach der sich manche Pflanzen mehr, andere weniger richten. Das berühmte Beispiel dafür ist die Mimose, Mimosa pudica, die ihre zierlichen Blättchen nicht nur dann einklappt, wenn man sie berührt. Sie pflegt abends auch schlafen zu gehen, und dabei ist ihr egal, ob es hell oder dunkel ist. Generationen von Pflanzenforschern haben in diversen Versuchsreihen beobachtet, wie Mimosen auch unter dauerhellen Lampen abends die Blätter falten und morgens wieder aufzuwachen gedenken.

Auch Bäume ruhen nachts, was kein Mensch bemerkt und nur mittels Laserscanner sichtbar wird. Sie lassen Blätter und Äste deutlich sinken. Sie können in der Finsternis sozusagen entspannen, denn sie müssen jetzt keine Sonnenstrahlen fangen. Die circadiane Uhr koordiniert und optimiert diese unterschiedlichen Stoffwechselprozesse. Untertags wird alle Kraft für die Photosynthese verwendet, nachts wird dafür kräftiger gewachsen, um es sehr vereinfacht darzustellen. Experimente haben gezeigt, dass viele Pflanzen diese Ruhephasen brauchen, um gesund zu bleiben. Wenn sie rund um die Uhr beleuchtet werden, beginnen erst die Blätter und schließlich die gesamte Pflanze abzusterben.

Hier befinden sich zum Zwecke der Aufzucht, Hege und Vermehrung zwei bestimmte Pflanzenarten in jeweils einem von LED-Lampen gleichmäßig erhellten Terrarium. Eigentlich handelt es sich um ausgediente Aquarien, aber egal. Da die Zeitschaltuhren bisher alle nach wenigen Monaten den Geist aufgaben, wird das Licht mittels Schalter bedient. Gelegentlich vergisst man seine Pflanzenzüchterinnenpflichten, vergisst auf- oder abzudrehen, übersieht dabei die Zeit, nicht aber den Effekt, den das Licht auf die Zöglinge hat.

Struppig und verwirrt

Dem Spinnenbeinfarn, Davallia bullata, ist es recht egal, wenn die Lampe auch nächtens brennt. Der wuchert unbeschadet selbst durch urlaubsbedingte Phasen der Vernachlässigung. Nicht so die Südseepalme, Biophytum sensitivum. Diese Winzlinge schauen tatsächlich aus wie Minipalmen, und sie zeigen deutliche Zeichen der Verwirrung, werden sie nicht regelmäßig beleuchtet. Morgens wecke ich sie mit Lichtstrahlen, dann stehen die kleinen Palmen struppig und verwirrt im Rampenlicht, strecken und recken sich jedoch rasch und entfalten ihre Wedelchen. Abends werden sie wieder struppig und zeigen durch unregelmäßiges Blättchenfalten an, dass Schlafenszeit wäre. Licht aus, bitte! Selbstverständlich, meine kleinen Lieblinge. Gleich springe ich zu ihrem Bettchen und decke sie sanft mit Dunkelheit zu.

Erschienen in der Presse