28.11.2023

Faszien – der sechste Sinn

Faszien, also Bindegewebe, bilden ein dreidimensionales Netz im Körper. Sie ermöglichen unter anderem die Wahrnehmung des Körpers im Raum und müssen genau so trainiert werden, wie die Muskulatur.

Vor mehr als zehn Jahren fand an der Harvard Medical School ein Kongress statt, der sich mit einem bis dahin kaum erforschten Körpermaterial befasste – dem Bindegewebe, auch Faszien genannt. Ärzte, Wissenschaftler, Biologen, Physiotherapeuten, Akupunkteure und andere Fachleuteaus 28 Ländern kamen zusammen, um ihre jeweiligen Erkenntnisse zu der geheimnisvollen Substanz auf den Tisch zu legen.

Die war – zumindest von der Schulmedizin – bis dahin recht wenig beachtet worden, obwohl die unterschiedlichen Spielarten des Bindegewebes immerhin 60 bis 70 Prozent der gesamten Körpermasse ausmachen und jeder von uns etwa 18 bis 23 Kilo davon mit sich herumträgt. Es galt als Füllmaterial, als Pufferzone, als Fettspeicher, also als jene den Blick verstellende Substanz, die Anatomen zuerst einmal wegschneiden mussten, um zum vermeintlichen Kern des Geschehens vorzudringen: Zu den Muskeln, Sehnen, Bändern, Knochen, Organen.

Eine faszinierende innere Architektur

Heute sind die Faszienforscher weltweit gut vernetzt, und das Bindegewebe ist zu einem der Superstars der aktuellen Medizinforschung avanciert. Es bildet eine faszinierende innere Architektur, die den gesamten Körper wie ein dreidimensionales Netz durchwirkt. Faszien umhüllen alle Organe und Gefäße, Nerven, Muskeln, ja sogar jede einzelne Muskelfaser.

Je nach Funktion und Körperstelle ist das Bindegewebe hochelastisch und dehnbar, wie etwa in Galle und Blase, oder straff und auf extreme Zugkräfte ausgerichtet, wie bei Bändern, Sehnen und den Hüllen, die Organe wie Herz und Nieren umgibt. Andernorts ist es wiederum locker geknüpft wie ein grobmaschiges Netz, etwa wenn es die unteren Hautschichten polstert oder Zwischenräume füllt. Das Bindegewebe versorgt Zellen und Organe mitNahrung und kann zudem Reize und Informationen nicht nur empfangen, sondern auch weitergeben.

Ein eigenes Bindegewebe-Nervensystem

Mittlerweile gehen Fachleute davon aus, dass dieses hochkomplizierte System als eigenes Organ betrachtet werden muss. Die Faszienforschung beruft sich dabei unter anderem auf einen erst vor kurzem entdeckten neuen Zelltyp, der möglicherweise Teil eines eigenen Bindegewebe-Nervensystems darstellt und derzeit intensiv erforscht wird. Man weiß über diese neuen Zellen noch recht wenig. Fest steht jedoch, so die Wiener Osteopathin Karin Mügge, „dass abgesehen davon die Faszien die Propriozeption, also die Wahrnehmung des Körpers in Bewegung und Raum, ermöglichen und somit einen sechsten Sinn darstellen.“

Faszienforschung

Pioniere wie die Biochemikerin Ida Rolf, die Erfinderin der gleichnamigen manuellen Therapie, Andrew Taylor Still, der Begründer der Osteopathie und andere haben schon früh auf die Bedeutung des Bindegewebes hingewiesen. Zu den bekanntesten zeitgenössischen Faszienforschern zählt neben dem italienischen Geschwisterpaar Carla und Antonio Stecco der deutsche Humanbiologe Robert Schleip. Der Leiter der Faszienforschungsgruppe der Universität Ulm hat etwa als erster nachgewiesen, dass sich Faszien eigenständig wie Muskeln zusammenziehen können.

Die Forscher fanden im Bindegewebe zu ihrem Erstaunen weit mehr Sensoren und Rezeptoren als in den Muskeln selbst. Sie fanden zudem heraus, dass Muskelkater nicht, wie bisher gedacht, im Muskel, sondern hauptsächlich in den Faszien zu spüren ist. „Diese Entdeckungen der neueren Physiologie haben das Bild vom Bindegewebe komplett verändert“, meint Faszienforscher und Mitinitiator des Harvard-Kongresses, Robert Schleip denn auch in seinem Buch „Faszien-Fitness“. Der Deutsche ist überzeugt: „Die Faszien sind, so gesehen, Teil des Gehirns und des Nervensystems, das Bewegung steuert.“

Apropos Bewegung: Der bekannte Spruch, wer rastet der rostet, lautet bei den Faszienforschern „use it or lose it“. „Wenn Faszien nicht arbeiten dürfen, wenn sie nicht belastet, gestreckt und gedehnt werden, verfilzen sie und verlieren ihre Geschmeidigkeit“, sagt Karin Mügge. Fasziale Schichte, die wie Scherengitter aufgebaut sind, oft übereinander liegen und aneinander entlang gleiten müssen, können verkleben und verfilzen. Das erzeugtSpannungen, die sich über weite Faszienbahnen fortsetzen, und die sich an ganz anderer Körperstelle negativ auswirken können. Das erkläre, so Mügge, nebenvielem anderen oft auch jene diffusen Schmerzzustände, die traditionelle schulmedizinische Bildgebungen weder erfassen noch deuten können.

Use it or lose it!

Ein prominentes Beispiel dafür sind die oft dicken, verhärteten Faszienplatten im Bereich des unteren Rückens. Wer hier regelmäßig unter Schmerzen leidet, denkt sofort besorgt an seine Bandscheiben. Doch neue Erkenntnisse sehen die Schmerzursache viel häufiger in der mit Sensoren überraschend dicht besiedelten Lumbalfaszie. Kundige Therapeuten können die verklebten Schichten durch verschiedene manuelle Methoden wieder voneinander lösen. Das tut ziemlich weh, allerdings nur kurz, und es zeigt augenblicklich und anhaltend Wirkung.

Die Geschmeidigkeit der Faszien wird durch Verletzungen, aber auch durch Nicht-Bewegen gehemmt. Dehnungen und Druckveränderungen hingegen, die durch gezieltes Bewegen entstehen – Sport, Yoga und dergleichen - pressen das Bindegewebe aus wie einen Schwamm, sodass es sich sofort wieder neu mit der sogenannten „Matrix“ füllen kann, also jener Grundflüssigkeit, in der alle Bestandteile des Bindegewebes schwimmen.

Darin befinden sich mit den Fibroblasten freischwimmende Zellen, durch die sich das Bindegewebe erneuert. Sie werden unmittelbar durch Bewegung angeregt und produzieren die Eiweißketten, Kolagen- und Elastinfasern, sowie die Hyalorunsäure, die dank ihrer hohen Fähigkeit der Wasserbindung für Geschmeidigkeit und Elastizität sorgt. Werden dieseSuperzellen jedoch nicht stimuliert, gehen sie in Ruheposition. Die Matrix verdickt sich, die Faszien verkleben, der Leib wird steif und unbeweglich. Vor allem schwingende, federnde, wippende Bewegungen kurbeln die Flüssigkeitsdynamik an.

Ein paar Minuten abwechslungsreicher Bewegung pro Tag reichen für die Fasziengesundheit, behauptet Schleip. Vielsitzern rät Mügge zumindest stündlich aufzustehen und sich fünf Minuten genüsslich durchzustrecken.

Erschienen in der Presse